Die Rinder-Retterin

Julie Siemering hat mehr als 30 Kühe und Ochsen freigekauft, die geschlachtet werden sollten. Mit ihren ersten zwei geretteten Rindern zog sie nach Solingen und bietet heute Kuh-Wanderungen, Besuchertage und Kennlerntermine an.

Als Julie Siemering ungefähr zwölf Jahre alt war, hat sie sich in Linus verliebt. Linus war das erste Kälbchen, das sie auf dem Hof ihres Großvaters mit der Flasche großgezogen hat. Als das Tier drei Jahre alt war, wurde es geschlachtet und Siemering nahm sich vor, nie wieder ein Kälbchen lieb zu haben.

©Klaus Kox

Doch zwei Jahre später passierte es: Sie war hin und weg von Noname, genannt Noni, einem Kälbchen, das sie ebenfalls mit der Flasche großzog. Sie spürte sofort eine Verbindung zu dem Tier: „Er hat mich bedingungslos akzeptiert, dieses Gefühl hatte ich in der Schule und bei meiner Familie nicht“, sagt die heute 22-Jährige.

Ein Jahr später starb ihr Opa – und die Geschichte drohte, sich zu wiederholen. Ihre Großmutter wollte Noni verkaufen, doch Siemering konnte das nicht zulassen, nicht noch einmal. Drei Jahre kämpfte sie dafür, das Tier behalten zu können. Sie wusste, dass es geschlachtet würde, wenn sie es nicht schaffte.

Denn: Ochsen haben für die Industrie keinen Wert, weil sie durch die Kastration nicht mehr zeugungsfähig sind.
Mit viel Überzeugungsarbeit und ein paar glücklichen Zufällen gelang es ihr. Noni war das erste Rind, das sie vor
dem Schlachter gerettet hat.

Wenig später kam Lina hinzu, ihr „kleiner Sonnenschein“. Die Kuh wäre aufgrund ihres Verhaltens wahrscheinlich geschlachtet worden: „Sie ist ein Wildherz und gehört einfach in die Freiheit“, sagt Siemering.
Sie sah es als ihre Aufgabe, ihre Wildheit zu stärken, anstatt dagegen anzugehen. So begann ihre Geschichte als
Rinder-Retterin.

Sanfte Seelen

Mehr als 30 Rinder hat sie seitdem freigekauft, um 14 Tiere kümmert sie sich heute noch. Sie hat drei Herden, die auf
verschiedene Orte verteilt sind, einer davon ist Solingen. Nachdem sie Noni gerettet hatte, zog sie mit dem 1000 Kilogramm schweren Ochsen und ihrer Kuh Lina in die Klingenstadt.

Sie kannte Solingen, weil ihre Freundin dort lebte, auch mit ein paar bergischen Landwirten hatte sie sich schon angefreundet. Sie pachtete ein Stück Land und stellte Noni und Lina dort unter. Im Laufe der Jahre kaufte sie weitere Rinder frei. Billy zum Beispiel, der Vater ihrer Kuh Lina. Billy verletzte sich so stark, dass er nicht mehr als Deckbulle
eingesetzt werden konnte und getötet werden sollte. „Obwohl er so groß und stark ist, hat er eine sanfte Seele“, sagt die 22-Jährige.

Keine Nutztiere mehr

Ihre geretteten Rinder sind nun keine Nutztiere mehr, sondern „Lebenstiere“. Sie müssen nichts leisten oder für die Industrie wertvoll sein, die dürfen einfach nur sein. Sie werden nicht auseinandergerissen, sondern können in ihren festen Herden-Konstellationen Freundschaften zueinander aufbauen. Siemering ist es wichtig, den Tieren auf Augenhöhe zu begegnen.

Da sie die Persönlichkeiten ihrer Rinder so gut kennt, weiß sie, wenn eines nicht gekuschelt werden will oder keine Lust auf einen Spaziergang hat. „Meine Rinder treffen, so gut es geht, Entscheidungen über ihr Leben selber“, sagt sie. Augenhöhe ist ihr auch wichtig, weil sie selbst so viel von ihren Tieren.

©Privat

Noni, sagt sie, habe sie verändert: Durch ihn habe sie sich dazu entschieden, kein Fleisch mehr zu essen und sich
im Tierschutz zu engagieren. Siemerings großer Traum war es schon lange, mit den Tieren auf einem Hof zu leben. Den erfüllte sie sich Ende 2021: Seitdem lebt sie mit ihrem „Adoptiv-Opa“ und seiner Schwester mit einer Herde auf einem Bauernhof in Mettmann.

Im Winter kommt ihre Solinger Herde, bestehend aus Noni, Lina und Jaro, dazu. Eine Menge Planung, Zeit und Geld
stecken in der Rinderhaltung. 100 Euro pro Tier muss sie im Monat einplanen, Krankheiten und Verletzungen sind nicht einkalkuliert. Alleine kann sie das nicht stemmen, sie finanziert den Unterhalt der Tiere durch Spenden und Patenschaften lernen kann.

Sie verbringt pro Tag durchschnittlich zwei bis drei Stunden bei den Tieren. Im Winter ist es sogar noch mehr, weil sie die Ställe regelmäßig ausmisten und die Rinder füttern muss. „Manchmal geht auch ein ganzer Tag mit Arbeit drauf“, sagt sie. Trotz aller Herausforderung habe sie Vertrauen darin, dass es gut geht.
Auch weil sie weiß, dass sie das Halten der Rinder auch alleine stemmen könnte: „Ich habe viel dafür gearbeitet und mich sehr reingehängt. Ich finde immer eine Lösung.“

Die vergangenen zwei Jahre waren sehr kräftezehrend für die 22-Jährige. Sie hat eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht und sich vor und nach der Arbeit um ihre Rinder gekümmert. In dieser Zeit hat sie sich entschieden, keine weiteren Rinder freizukaufen. Auch emotional sei das jedes Mal eine große Belastung: „Es fällt mir sehr schwer,
die Tiere in den Anlagen leiden zu sehen“, sagt sie. Auch wenn sie die Tiere nicht behalte, trage sie immer die Verantwortung.

Stattdessen möchte sie sich nun darauf konzentrieren, Menschen das Leben mit Rindern näherzubringen. Durch Vorträge, Coachings und Angebote wie Kuh-Wanderungen oder Besuchertage für Kindergruppen. „Ich möchte den Menschen zeigen, wie wundervoll diese Tiere sind“, sagt sie.

Danina Esau – ENGELBERT Redaktion

Kuh-Wanderung mit Julie Siemering
Angebote wie Kuh-Wanderungen, Besuchertage für Kinder und Kennlern-Termine bietet Julie Siemering in Solingen und Mettmann an. Infos dazu gibt es auf ihrer Website www.gehoernte-gefaehrten.de