Ahoi!

Regelmäßig segeln die Mitglieder des Segelclubs Solingen
durchs Ijsselmeer. Davon hätten wir uns erzählen lassen können. Aber ENGELBERT ist lieber mitgesegelt. War ganz geil.

en magischen Moment erlebe ich irgendwann am frühen Nachmittag, keine Ahnung wann genau, die Zeit hat sich im Wind und zwischen den Wellen des Ijsselmeers aufgelöst. „Willst du mal an die Pinne?“, fragt mich Andreas. Die Vrouwezand neigt sich nach links, liegt am Wind, wir nehmen Fahrt auf. Ich zucke die Schultern. Was, wenn ich das versemmle und wir gleich wieder an Tempo verlieren? Womöglich rumdümpeln?

Ach, ewiges Perfektionsdenken. Über Bord damit. Ich breite die Beine aus, ergreife die Pinne. Und steuere. Und wir werden schneller. Knapp sieben Knoten, immer noch am Wind, den wir jetzt, endlich, richtig spüren. Die Wellen klatschen an die Backbordseite, wir neigen uns noch stärker, viel mehr geht nicht bei einem Plattbodenschiff. So gleiten wir durchs Ijsselmeer, das dunkelgrau den immer noch wolkenverhangenen Himmel spiegelt. Ein Lächeln macht sich in meinem Gesicht breit, und ich denke nur:
Mann, ist das geil.

Fünf Stunden vorher denke ich das noch nicht. Sondern: Was hat mich bloß geritten? Eigentlich hatten wir ein Interview mit Andreas Wiedmann geplant, dem ersten Vorsitzenden des Segelclubs Solingen, über die Faszination Segeln, die Vereinsarbeit, den Segelunterricht und so weiter. Und dann ich wieder: „Wann segeln Sie denn demnächst? Wir könnten ja mitkommen. Haben so was noch nie gemacht. Ach, am Vatertag? Ja super!“ Genau. Super. Wir steigen nach drei Stunden Fahrt im niederländischen Gaastmeer aus dem Auto, es schüttet bei elf Grad wie aus Kannen und meine Regenjacke macht schon nach zehn Minuten ihr Testament. Das kann ja lustig werden.

Ein Glück: Das wird es! Und das lange, bevor der Regen sich verabschiedet und am späten Nachmittag einer warmen Maisonne Platz machen wird. Sondern schon mit dem ersten Schritt an Deck. Mein Sohn ist auch dabei und entdeckt mit ebenso großen Augen wie ich das gecharterte Plattbodenschiff. Das ist jetzt noch in der Waterrecreatie, einer beschaulichen Marina, festgemacht. Gleich muss es erst einmal durch einige Kanäle und das Heeger Meer schippern, ehe es aufs IJsselmeer geht. Eine zehnköpfige Crew kann darauf segeln, kochen, essen, schlafen, eine gute Zeit haben. Auch eine Toilette ist an Bord. Ich lerne Andreas persönlich kennen, seinen Sohn Jan-Lucca und seine Frau Elke, Co-Skipper Martin und seinen Sohn Felix, die auch beide ein eigenes kleines Segelboot haben, und noch einige andere. Nachnamen gibt’s beim Segeln nicht, Siezen schon mal gar nicht, sehr sympathisch. Als mir Andreas und Martin kurz darauf das Boot erklären, benutzen die beiden erfahrenen Segler so viele Fachbegriffe, dass ich irgendwann nur noch wie automatisiert nicke. Hat schon seinen Grund, warum so ein Boot nur chartern darf, wer einen Segelschein nachweisen kann. Und warum man beim Segelclub Solingen auch erst einmal das reine, ursprüngliche Segeln in einer kleinen Jolle lernen muss, ehe es überhaupt weitergeht. „Wer Jolle nicht kann, kann nicht segeln“, unterstreicht Andreas.

An der Schleuse? Erst warten. Dann zirkeln.

Ich merke mir indes wenigstens ein paar Begriffe. Die Pinne ist das Ruder. Mit den großen Seitenschwertern aus Holz wird, um das Abdriften zu mindern, der fehlende Kiel ausgeglichen: Denn ein Plattbodenschiff hat eben nicht viel Tiefgang. Meterhoch wächst der Mast in die Höhe, fast im rechten Winkel dazu erstreckt sich der Großbaum über unsere Köpfe hinweg bis ans Heck. Hier wird nachher das Hauptsegel gehisst. Oben weht im Wind der Verklicker, der die Windrichtung anzeigt. Und damit unser Boot beim Anlegen nicht gegen einen Steg knallt, hängen rechts und links die dicken Fender. Alles klar. Lange bevor wir überhaupt das Ijsselmeer erreichen, das wir bis Enkhuizen kreuzen werden, lerne ich, was Segeln auf so einem Plattbodenschiff vor allem anderen ist: Teamarbeit. Das fängt schon beim Ablegen an. Jeder Handgriff, vom Starten des Motors (denn im Hafen wird nicht gesegelt) über das Ablassen der Schwerter bis zum Einholen der Fender wird per Kommando und Rückbestätigung nacheinander ausgeführt, weil in der engen Marina jeder Zentimeter zählt. Ganz wichtig: „Einer muss das Sagen haben“, erklärt Andreas. Und Zeit für Bitte-bitte bleibt, wenn sich plötzlich ein Poller gefährlich nähert, eben auch nicht.

Zeit bleibt aber kurz darauf, als wir sehr entspannt durch die Kanäle und das Heeger Meer fahren. Zum Schauen. Zum Tiefdurchatmen. Zum Staunen: Links kommt uns eine Schwimmerin entgegen, locker Mitte sechzig und verdammt schmerzfrei. Um uns herum Haubentaucher, Möwen, Kormorane, Enten und was nicht noch alles hier herumfliegt und schwimmt. Herrlich. Während sich mein Sohn mit Unterstützung von Jungskipper Felix auch mal an der Pinne versuchen darf, kann Andreas mir in Ruhe erzählen, wie er zum Segeln kam – und zum Vorsitz im Segelclub Solingen. „Das begann im Jahr 2000. Alle hatten Osterurlaube gebucht, wir nicht. Da fing das Nörgeln in der Familie an. Also nach Holland, ein Motorboot gemietet, das geht ja hier mit einem normalen Autoführerschein. War sehr schön. Ich habe im Büro davon erzählt und eine Kollegin berichtete vom Segelclub. Und ich nur: Segeln – und Solingen? Dass ich nicht lache. Aber so kam ich zum Segeln. Und blieb dabei. Bis dahin hatte ich immer gedacht: Segeln, das ist was für die anderen.“

Nicht nur das: Andreas Wiedmann, heute Mitte sechzig, wie alle Macher im Unruhestand und nach wie vor mit eigenem Architekturbüro am Start, übernahm 2011 den Vorsitz. Er führt den Verein seitdem wie ein Unternehmen. Mit professioneller PR-Arbeit. Mit zahlreichen Aktionen und Aktivitäten, die allen zugute kommen. Und indem er neben Kindern auch immer mehr Frauen für den Sport begeistert. Fünf eigene Boote besitzt der Verein – sie stehen den Mitgliedern gegen eine geringe Gebühr zur Verfügung. In Roermond und im belgischen Ophoven werden jedes Jahr die Segelfreizeiten für Kinder und Erwachsene gegeben. Die praktische Ausbildung für den Binnenschein führt der Verein übrigens im niederländischen Friesland durch. Er arbeitet auch eng mit dem Stadtsportbund zusammen, für die hervorragende Jugendarbeit ist er längst über die Grenzen der Klingenstadt hinaus angesehen. Nächster Plan: Eine vereinseigene Segelyacht vor Mallorca.

Wind! Wind!

Jetzt den Kurs finden

Während wir das Heeger Meer durchqueren, erzählt Andreas auch von echten Abenteuern auf dem Meer. Von Stürmen, Starkregen und unfreiwilligen Nachtfahrten irgendwo vor der türkischen Küste bei Marmaris mit null Sichtweite. Und davon, dass es dann immer auf eins ankommt: „Besonnen bleiben. Eine Lösung finden.“ Denn wer sich, wie jeder überzeugte Segler, darauf einlässt, dass allein die Urgewalt der Natur ihn antreibt, der muss mit dieser Urgewalt klarkommen. Hier oben im Ijsselmeer, jenem bei vielen Seglern so beliebten Binnenmeer an der niederländischen Küste, lässt es die Natur an diesem Vatertag langsam angehen.

Nachdem wir zunächst eine Verkehrsbrücke und dann die Schleuse zum Ijsselmeer passieren müssen, wo wir jeweils kurz anlegen, bis es weitergeht, liegt es dann auch endlich vor uns.Wie viele andere Segelboote hier kreuzen. Wow. Na, dann geht es jetzt ja so richtig … Nö. Geht es nicht. Die Crew hisst das Haupt- und Focksegel, und es passiert … nicht viel. Anderthalb Knoten. Gefühlt stehen wir. „Wo müssen wir eigentlich hin?“, frage ich Andreas und er zeigt irgendwo in die Ferne. „Aber die Windrichtung ist ja nicht die Fahrtrichtung“, fügt er noch hinzu. Stimmt, das hat er vorhin schon mal fallen lassen, und jetzt kapiere ich das auch: Die Segel des Bootes müssen so im Wind stehen, dass dieser für möglichst viel Vortrieb sorgen kann. Nur: Wenn das geschafft ist, segeln wir noch lange nicht dahin, wo wir hinwollen.

Das ist die Kunst: Den Wind so optimal nutzen wie es geht und den Kurs beibehalten. Den rechnet Andreas’ Frau Elke unter Deck alle paar Minuten neu aus. Denn: Wir nehmen bald Fahrt auf. Doch der Wind ändert sich ständig. Frischt auf, flaut ab, dreht sich. Und immer wieder muss die Crew reagieren. Die Segel anders setzen, den Kurs leicht ändern, das linke Schwert einholen und das rechte ablassen … „Hol doch mal eben links das Schwert hoch, einfach an der Schot ziehen“, ruft mir Martin zu. Als ich mir gekonnt einen abbreche, übernimmt er mit drei kräftigen Zügen und ruft mir über die Schulter zu: „Ja, es heißt SegelSPORT.“ Werde ich nie mehr infrage stellen, versprochen. Und wenn Martin ergänzt, dass er abends, so toll die Tage auf dem Wasser auch sind, meist echt platt ist, unterschreibe ich das auch. Segeln ist nicht: Abhängen. Segeln ist: Action. Verantwortung. Aufmerksamkeit. Gegenseitige Unterstützung.

Und ein Lebensgefühl.
Es wird halb fünf, als wir den traumhaft schönen Hafen von Enkhuizen erreichen, ich habe fast die kompletten acht Stunden an Deck verbracht und stelle fest, dass man auf dem Meer auch unter Wolken einen Sonnenbrand kriegen kann. Die Crew holt noch vor der Einfahrt in den Hafen die Segel ein, der Motor übernimmt wieder. Die Sonne stiehlt sich durch die Wolken und inszeniert die vielen kleinen Segelyachten jetzt beinahe kitschig. Nein, das hier ist einfach nur echt. So echt wie die Menschen an Bord. Segler eben.

Sonne. Meer. Wir.

Könnt‘ schlimmer kommen.

Beim Anlegen treffen wir auf die Crews zweier anderer Plattbodenboote, die schon eine Stunde eher gestartet sind als wir. Wann habe ich das letzte Mal so viele zufrieden lächelnde Menschen auf einmal gesehen? „War das wieder ein Scheißtag heute, oder?“, ruft Andreas den anderen zu. „Ja, so richtig schlimm. Mann war das ein Mist“, rufen sie zurück. Und lachen glücklich.
Andreas lädt uns spontan zum Segel-Schnupperkurs während des Sommercamps nach Roermond ein, ich sage sofort zu. Wir gehen an Land, verabschieden uns von allen und ich spüre sofort Wehmut: Haben die es gut, denke ich. Die dürfen morgen wieder die Segel setzen. Und dann raus. Aufs Meer.

Ein Artikel aus dem ENGELBERT Solingen, Ausgabe 27.